175 Jahre moderne Schweiz
1. Augustrede 2023, gehalten am 1. August in Gretzenbach und in leicht veränderter Ausführung in Grenchen
Der Grund für unser Feiern ist die Freude an unserem Bundesstaat, an unserem Land, an unserer Bevölkerung, unseren Nachbarinnen und Nachbarn, Freundinnen und Freunden, Bekannten, Familienangehörigen und überhaupt an unseren Mitmenschen.
Vor 175 Jahren, d.h. 1848, haben die damals 22 eidgenössischen Kantone eigene Kompetenzen zugunsten des Bundesstaates abgegeben und der neuen Bundesverfassung mehrheitlich zugestimmt. Es war ein hartes, emotionales Ringen zwischen den Liberalen und den Katholisch-Konservativen, bis man sich einig war, wie der Bundesstaat organisiert sein soll, damit auch die kleinen katholischen Kantone nicht überstimmt würden. Das Zweikammersystem nach dem Modell USA wurde beschlossen, das Kernstück des liberalen Bundesstaates. Die Verfassung von 1848 war die Grundlage für ein vereintes, demokratisches Land: die Schweiz machte den Schritt vom Staatenbund zum Bundesstaat. Aber erst mit der Verfassungsrevision von 1874 konnte auch eine Mehrheit der Katholisch-Konservativen hinter der Bundesverfassung stehen, denn erst dann wurden die direktdemokratischen Instrumente ausgebaut resp. das fakultative Referendum eingeführt. Damit wurde der Weg des schweizerischen Bundesstaates zu einer halbdirekten Demokratie beschritten. Einzelne Inhalte der Bundesverfassung haben sich im Laufe der letzten 175 Jahre immer wieder verändert, auch weil die Bevölkerung mit dem Initiativrecht ein Instrument hat, den Inhalt der Verfassung auch ausserhalb von Teil- oder Totalrevisionen zu bestimmen. Mit der letzten Totalrevision von 1999 wurden Anpassungen an die aktuelle Zeit vorgenommen, aber die Grundstruktur und die Grundwerte in der Bundesverfassung sind immer noch die gleichen.
Wir alle sind wohl nicht sehr emotional, wenn wir an unsere Verfassung denken. Es scheint uns selbstverständlich, dass die Grundregeln unseres Staates, unseres Zusammenlebens, unserer demokratischen Ordnung und die Grundrechte der Menschen, die in unserer Schweiz wohnen, dort verankert sind.
Geburtsstunde der modernen Schweiz
1848 gilt als die Geburtsstunde der modernen Schweiz. Die neue Verfassung war eine grosse Errungenschaft. Als Frau kann ich allerdings nicht darüber hinwegsehen, dass Politik damals reine Männersache war. Ja, für die «aufgeklärten» Verfassungsgeber galt Weiblichkeit als Gegensatz der Vernunft, die wie die Politik reine Männersache war. Praktisch niemand konnte sich damals vorstellen, dass Frauen dereinst die gleichen politischen Rechte haben sollten.
Unser Land ist heute ein völlig anderes als vor 175 Jahren. Und doch ist diese Bundesverfassung immer noch die Grundlage unseres politischen Systems. Wir haben uns trotz verschiedener Sprachen, Konfessionen und Kulturen im Rahmen der geschaffenen Institutionen zusammengerauft und weiterentwickelt.
Heute, an unserem Nationalfeiertag, ist der Moment, uns Gedanken zu machen, ob wir eigentlich zufrieden sind mit unserem Staatswesen, wie es sich heute präsentiert, mit unserem Land, mit der Politik, mit unserem Leben. Ja, und je nach dem, was wir uns dabei so überlegen, lässt das uns völlig kalt oder wir ereifern uns, wir zeigen Emotionen. Ehrlich gesagt, sind mir Emotionen lieber als Gleichgültigkeit. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder durch verschiedene freundschaftliche Beziehungen, die ich mit Gretzenbacherinnen und Gretzenbachern pflege, überzeugen lassen: Euch Gretzenbacherinnen und Gretzenbacher ist nicht egal, was um euch passiert. Ihr zeigt Emotionen, wenn es um euer Dorf, um eure Existenz, um die Zukunft eurer Kinder geht, wenn ihr persönlich betroffen seid oder jemand betroffen ist, der euch nahesteht. Ihr diskutiert hitzig um geplante Handyantennen in der Nachbarschaft, oder wenn das Quartier durch Verkehr übermässig belastet wird. Ihr steht zusammen und sammelt gemeinsam, wenn es um die Finanzierung einer Weihnachtsbeleuchtung geht.
Mir ist, wie gesagt, die hitzige Diskussion lieber als die kalte Gleichgültigkeit. Ich hoffe aber, die hitzige Diskussion geht nicht in sture Rechthaberei und Fanatismus über. Die Klage über die Spaltung der Gesellschaft und die Polarisierung der Meinungen ist heute weitverbreitet. Das ist in der Tat etwas, das auch mir Sorgen macht.
Spaltungen, Spannungen und Leitplanken der Demokratie
Wir müssen uns aber eingestehen, dass Spannungen und Spaltung auch in der modernen Schweiz eine lange Tradition haben. Eigentlich waren sie gerade auch im vielgepriesenen Geburtsjahr 1848 sehr ausgeprägt vorhanden. Die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen waren von einer geradezu erschreckenden Heftigkeit und mündeten, wie wir wissen, in einen kurzen Bürgerkrieg.
Aber irgendwann war das, was die Gemüter so erhitzte, plötzlich nicht mehr so wichtig. Ein skurriles Beispiel dafür ist das Jesuitenverbot, das von 1848 bis 1973 in der Verfassung verankert war.
Das Jesuitenverbot ist ein eher unrühmliches Kapitel der modernen Geschichte der Schweiz. Es war wohl nicht nur schlichtweg unnötig – bestand doch weder die Gefahr der Einwanderung von Jesuitenorden, noch waren diese staatsgefährdend, es beschränkte aber ein wichtiges Recht, nämlich die Religionsfreiheit.
Die Demokratie kommt nämlich mit ein paar wichtigen Leitplanken, die selbst dem Mehrheitsentscheid Grenzen setzen.
Grundlegende Rechte und der Schutz von Minderheiten sollen nicht einfach mit einem Mehrheitsentscheid gekippt werden können. Trotzdem hat es schon vor 175 Jahren Mehrheitsentscheide gegeben, die streng genommen den Grundrechten der Verfassung widersprochen haben. Der Jesuitenartikel ist erst 1973 nach einer Volksabstimmung wieder aufgehoben worden. Es gibt Stimmen die sagen, es sei wahrscheinlich den Frauen zu verdanken gewesen, die ja 1971 das Stimmrecht erhalten haben. Sie hätten sich, so der Verfasser einer Studie zu diesem Thema, nicht von Propaganda leiten lassen. Mit anderen Worten: Die Einführung des Frauenstimmrechts hat die Vernunft in der Politik gestärkt! Hätten die Gründerväter der Verfassung das noch erleben können!
Dass in den letzten Jahren immer wieder Initiativen eingereicht wurden, bei denen fraglich war, ob sie der Verfassung widersprechen, ist keine gute Entwicklung. Wie beim Jesuitenverbot vor 175 Jahren werden zuweilen Emotionen geschürt, um politische Entscheide zu erwirken, manchmal mit Erfolg. Aber unser direktdemokratisches System erlaubt es, getroffene Entscheide auch wieder zu revidieren...
Demokratie setzt der Macht des Staates Grenzen
Und, noch wichtiger, unser System setzt auch der staatlichen Macht Grenzen, in dem die Funktionen auf Legislative, Exekutive und Justiz, d.h. auf Parlament, Regierung und Gerichtsbarkeit verteilt werden.
Das Gleichgewicht der Gewalten, die gegenseitige Kontrolle, das sog. Prinzip der «checks and balances» als Grundlage unserer direkt demokratischen Strukturen verlangt einerseits die Mitwirkung und das Engagement aller, auf allen Stufen und andererseits aber auch das Vertrauen der Bevölkerung in diese Strukturen resp. die Akzeptanz der Funktion und der Entscheide der Akteurinnen und Akteure der verschiedenen Gewalten.
Ich bin daher froh, dass wir in der Schweiz für politische Mitwirken, für die direkte Demokratie und die demokratische Diskussionskultur einstehen, damit sind Sie alle, die Sie hier versammelt sind, ein wichtiger Garant für eine der Rechtstaatlichkeit verpflichteten Schweiz, auch in Zukunft. Gerade das engagierte Mitwirken, das Mitgestalten und Mitreden auf der Gemeindeebene hält unsere direkte Demokratie lebendig. Es ist daher auch richtig, sich auf Gemeindeebene Gedanken zu machen, wie alle Einwohnerinnen und Einwohner, unbesehen ihres Alters oder ihrer Staatszugehörigkeit in einer lebendigen Demokratie mitwirken können.
Die Einführung des Wahl- und Stimmrechts für die Frauen und das Jesuitenverbot sind zwei Beispiele, die zeigen, dass unsere Demokratie und unsere Gesellschaft wandlungsfähig sind. Es sind aber auch Beispiele, die zeigen, wie langwierig die politische Meinungsbildung sein kann, wie viel Geduld uns die Demokratie manchmal abfordert.
Wir müssen Sorge tragen zu unseren demokratischen Strukturen. Ich hoffe, wir schätzen es, dass wir in unserem Land nicht nur auf allen Ebenen, sei es Gemeinde, Kanton oder Bund, wählen können, sondern dass wir auch bei Sachgeschäften mit Petitionen, Initiativen, Referenden aktiv mitwirken und abstimmen können.
So lasst uns leidenschaftlich diskutieren, auch wenn wir nie wissen können, wie wichtig die Themen, die unsere Gemüter heute so erhitzen, in einigen Jahren, Jahrzehnten sein werden.
Wir dürfen – nicht nur heute – stolz sein und uns daran freuen, in einem Land zu wohnen, wo emotionale Auseinandersetzungen geführt werden, demokratische Entscheide akzeptiert und trotzdem auch wieder neu diskutiert werden können. Ich wünsche uns allen, dass wir dieses wichtige Gut der Solidarität, des gesellschaftlichen Zusammenhalts bewahren, auch in den nächsten 175 Jahren.