Solange wir uns ärgern, funktioniert die Demokratie
Ansprache im Rahmen der Bundesfeier 2017 in Kappel, am 31. Juli
Heute feiern Sie einen Tag zu früh den 1. August, aber auch ich werde hier einen Tag zu früh als Regierungsrätin angekündigt. Ich bin erst ab morgen im Amt. Wichtig in unserem Land sind aber nicht Amt und Würde, wichtig ist auch nicht, ob wir uns am 1. August oder an einem anderen Tag im Jahr Gedanken zu unserer Schweiz, zu unserer Heimat machen. Wichtig ist, dass wir zusammenkommen und unbesehen der Herkunft, zusammen über die Zukunft unseres Dorfes, unseres Kantons und unserer Schweiz, unserer Heimat diskutieren.
Es stellt sich die Frage, was ist Heimat, ein Ort, ein Gefühl?
Peter Bichsel sagt: „Ich habe meine Heimat dort, wo ich meinen Ärger habe.“
Solange wir uns noch ärgern über das, was um uns herum passiert, solange funktioniert unsere Demokratie. Solange setzten wir uns für unsere Anliegen zum Wohle von uns allen ein. Wenn gesagt wird, die Stimmbeteiligung werde immer tiefer, stimmt das zwar. Sobald aber in unserem Land ein wichtiges Sachthema ansteht, steigt das Interesse. Es ist ein positives Zeichen, dass die Bevölkerung mitdiskutiert, auch wenn die Abstimmungsvorlagen immer komplizierter werden. Es ist deshalb wichtig, dass im Dorf die Demokratie gelebt wird, auch wenn man sich aufregt, Unruhe geschaffen wird. Schlussendlich zeigt das doch, dass Betroffenheit da ist und es der Bevölkerung wichtig ist, was im Dorf entschieden wird und wohin es gehen soll.
Ich habe mich sehr gefreut, dass ich hier nach Kappel eingeladen wurde. Wir sind als Kinder mit unseren Eltern jeweils durch Kappel gefahren, wenn wir das Grosi in Aarwangen besucht hatten. Mein Vater war in Neuendorf aufgewachsen, und er hat uns auf dem Weg nach Aarwangen jeweils seine Heimat zeigen wollen. Ich selber bin auf einem Bauernhof in einem Dorf aufgewachsen, das oft mit Kappel verglichen wurde, das Dorf heisst Däniken. Warum der Vergleich, weiss ich nicht mehr genau. Däniken war früher ein Dorf von Kleinbauern und Gewerbe sowie das Kappel wohl auch war. Däniken ist dann in den 70er Jahren reich geworden, weil das Kernkraftwerk viel Steuern abgeworfen hat. Die Bevölkerungszahl ist aber in den letzten 10 Jahren nicht mehr wesentlich angewachsen. Kappel hat sich vom Bauerndorf zur attraktiven Wohngemeinde entwickelt und ist gewachsen und gewachsen auch in den letzten Jahren noch. Kappel ist heute eine starke Gemeinde, welche mehr Einwohner zählt als Däniken.
Kommen wir zurück zur Frage, warum Däniken mit Kappel verglichen wurde. Vielleicht weil wir in Däniken den Cervelat-Block hatten? Ein riesiger langer Balken am Ausgang des Dorfes, ein Gebäude, wie ich als Kind kein anderes gekannt hatte. Ich dachte als Kind, der Block heisse Cervelat-Block, weil er die Länge eines Cervelats hatte. Cervelats liebte ich, wir assen sie jeweils zum Zvieri. Später habe ich dann gehört, dass der Cervelat-Block anfänglich als modern galt, mit teuren Wohnungen, so dass die Mieter sich nur noch Cervelats hätten leisten können. Später als der Block nicht mehr so neu war, sollen jene Menschen eingezogen sein, die sich nicht mehr als Cervelats hätten leisten können.
Mir ist als Kind aber nichts aufgefallen. Zwar wohnten meine türkischen Klassenkameradinnen, die Mitte der 70er-Jahre ohne Deutschkenntnisse nach Däniken gezogen und uns ziemlich fremd waren im Cervelat-Block. Aber Cervelat haben sie sicher nicht gegessen....
Tatsächlich gab es auch in Kappel einen markanten Block. Wenn wir zum Grosi fuhren, erschien er am Ende des Dorfes. Er war aber nicht breit, sondern sehr hoch. Von Cervelat erzählte mein Vater damals nichts, aber er sagte, das sei modern. Und mein Vater hatte gerne moderne Sachen, auch wenn ihm dieser Block nicht ganz geheuer war, so auf dem Land...
Und wahrscheinlich verhielt es sich mit dem Block in Kappel gleich wie mit jenem in Däniken: Zuerst modern und teuer und schliesslich wurde er von Menschen bewohnt, die sich keine andere Wohnung leisten konnten.
Ob Däniken, ob Kappel, ob Stadt oder Land, die Welt verändert sich. Es soll aber Platz für alle haben und wir müssen damit umgehen können, dass sich auch im Dorf soziale Ungleichheiten und Probleme manifestieren, die zu lösen sind. Gerade im Dorf fällt es aber viel schneller auf, wenn man sich vieles nicht mehr leisten kann.
Es ist mir wichtig, die Anliegen der Menschen auch aus dem Dorf als Regierungsrätin nach Solothurn mitzunehmen. Es ist mir wichtig, dass es im Dorf funktioniert, auch wenn die Gegensätze manchmal gross sind und es Auseinandersetzungen gibt. Im Dorf betrifft es unmittelbar, es geht nah, man rauft sich aber wieder zusammen und oftmals braucht es halt mehrere Anläufe, bis eine Lösung gefunden ist.
Auch in Solothurn in der Regierung gilt es, zusammen mit den anderen Regierungsräten, mit den Gemeinden, mit den Betroffenen, mit der Bevölkerung, Lösungen zu finden. Dazu braucht es Zeit, aber es braucht auch die Unterstützung und das Engagement von allen Beteiligten.
Ein altes (afrikanisches) Sprichwort sagt es so: «Wenn ihr schnell gehen möchtet, geht alleine; wenn ihr weit gehen möchtet, geht zusammen. »
Mit euch zusammen möchte ich weit gehen – und die Herausforderungen unseres Kantons anpacken und an diesen Herausforderungen wachsen. Wenn wir zusammen etwas erreichen wollen, braucht es alle und es braucht gemeinsame Werte.
Es ist naheliegend, im Zusammenhang mit dem 1. August vor allem Werte wie direkte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität zu erwähnen.
Rechtsstaatlichkeit und direkte Demokratie, das heisst...
...zum Beispiel das Prinzip der Gewaltenteilung hochhalten. Das ist angesichts des aktuellen Weltgeschehens keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Schweiz ist eine Nation, welche in der Diskussion um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie viel zu bieten hat. Ich bin überzeugt, dass das Modell Schweiz immer noch Zukunft hat und der Vorzeigecharakter der Schweiz wichtiger denn je ist.
Solidarität, ein grosses, wichtiges Wort,
aber, sind wir solidarisch genug?
Dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst, steht bereits in der Einleitung zu unserer Bundesverfassung.
Der Staat soll sich also am Wohlergehen von all seinen Mitgliedern orientieren.
Sollte es nicht das Ziel einer solidarischen Gesellschaft sein, darauf zu vertrauen, dass jede und jeder Einzelne verantwortlich für die Gesellschaft und für sich selber handelt?
In unserer individualisierten Gesellschaft wird die soziale Ungleichheit zum Problem des Einzelnen, weil er die Chancen und Risiken seines Lebens selber trägt.
Aber wir wissen alle, dass Erfolg und Misserfolg nahe beieinander liegen im Zeitalter der Beschleunigung, im Zeitalter des digitalen Wandels.
Heute geht die Arbeitsstelle rasch verloren und der soziale Abstieg droht, weil man keine Chance mehr hat auf dem Arbeitsmarkt, weil man keine genügende Ausbildung hat oder zu alt ist.
Es muss deshalb unser Anliegen sein, sozial benachteiligten Menschen die Möglichkeit zu schaffen, dass sie ihr Leben wieder selber bestreiten können, dass sie eine Chance erhalten wieder auf eigenen Beinen stehen zu können.
Nicht vergessen dürfen wir aber, dass es in unserem Alltag viel mehr gelebte Solidarität gibt, als wir auf den ersten Blick meinen.
Mehr als 40 Prozent der Wohnbevölkerung über 15 Jahre leistet mindestens eine unbezahlte Freiwilligenarbeit. Fast 20 Prozent engagieren sich in Vereinen und Institutionen. Das ist doch beachtlich und zeigt, dass Solidarität gelebt wird. Gerade im Dorf hat sie einen wichtigen Stellenwert.
Ich möchte darum heute, am 1. August, allen Menschen danken und alle Menschen in den Vordergrund stellen, welche sich für Nachbarn, Bekannte, die Gemeinschaft einsetzen, auch wenn man sie nicht sieht.
Auch die heutige Feier zeigt das Zusammenspiel der Dorfvereine auf, die Brass-Band, der FC, welche diesen Anlass unterstützen und bereichern, zeigen auf, wieviel Herzblut und Engagement hinter einem solchen Anlass steht.
Gerade auch durch kulturelle Arbeit lebt unsere Gesellschaft und wird unsere Gemeinschaft gestärkt. Kappel ist für seine gelebte Kultur bekannt. Ich verstehe darunter auch das reiche Vereinsleben, welches auch anlässlich der Kappeler-Kilbi zum Ausdruck kommt. Auch für meine „Stadtkindern“ war es ein Muss an diese berühmt berüchtigte Kilbi zu gehen.
Ich möchte Sie aufmuntern, machen Sie weiter so – engagieren Sie sich weiter für die Gemeinschaft, für das Dorf, für unsern Kanton, für unsere Schweiz. Das trägt uns und trägt auch den Wandel, auf den wir alle warten.
Und freuen wir uns, denn die Freude ist das, was uns zusammenführt, uns zusammenhält und uns zeigt, dass wir zusammengehören
Und damit sind wir bei meiner Ausgangsfrage: Ist Heimat ein bestimmter Ort oder ein Gefühl?
Heimat ist für jeden und jede etwas Anderes und das ist auch gut so.
Sicher ist aber, dass der Zusammenhalt uns ein „Heimatgefühl“ gibt. Lassen wir diesem Gefühl des Zusammenhalts freien Lauf und freuen wir uns alle zusammen und feiern wir den 1. August.